Matthias Jung


 

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Zeitsprung - Gemeinde 2030

 

 

Michael, der Seelenwäger

Predigt am Ewigkeitssonntag 2011

 

Liebe Gemeinde,

wir sehen hier ein Bild des Engels Michael. Unzählige Male ist Michael in den vergangenen zweitausend Jahren dargestellt worden, gemalt, geschnitzt, aus Stein gehauen. Und immer wieder sind es die gleichen Dinge, die er in der Hand hält. Eine Waage und ein Schwert, das manchmal aber eher – so wie hier – an eine Lanze erinnert. Mit dem Schwert wehrt er den Teufel ab, der begierig seine Klauen nach dem Mensch in der rechten Waagschale ausstreckt. Auch in der linken Waagschale sitzt ein Mensch, hier aber behutsam gehalten von einer anderen Figur.

Michael, der Seelenwäger. Waage und Schwert sind in der Tradition der Kirchengeschichte das Sinnbild von Abwägen und Entscheiden. Hier und heute erinnern Waage und Schwert an den Tod und damit verbunden stellen sie die Frage nach dem Sinn unseres Lebens. Nach dem, was bleibt. Nach dem, was zählt.

Grausam wie ein Schwert kann der Tod das Leben zerschneiden, unerbittlich teilt er Leben vom Tod. Er stellt alles in Frage. Viele von Ihnen haben das im letzten Jahr erlebt.

Der Tod kann zuschlagen wie ein Schwerthieb. Wer plötzlich einen Menschen verloren hat, weiß, wie das ist: der Boden wird unter den Füßen weggezogen. Ein Unfall, eine Krankheit, fast aus heiterem Himmel. Und dann ist von einem Moment auf den anderen nichts mehr so, wie es war.

Oder da sind die, auf die der Tod schon lang vorher seinen Schatten wirft. Alter oder Krankheit lässt sie von Monat zu Monat, von Woche zu Woche immer weniger werden. Wir stehen daneben und sehen Frau oder Mann, Mutter oder Vater, Bruder oder Schwester dahinschwinden, wissen es oder ahnen zumindest, aber wir können es nicht aufhalten. Der Tod wird kommen, wir sehen es. Wie durch ein scharfes Schwert wird dann die Trennung vollzogen werden, ein Mensch wird gehen, aber wir werden noch da sein, wir werden diesen Menschen nicht aufhalten können.

Und da sind die, die sterben müssen und doch nicht sterben können, die sich wehren gegen das Unaufhaltsame, kämpfen und aufbegehren. Ihr Todeskampf ist ein doppeltes Ringen mit dem Tod, wie mit einem Schwert der Verzweiflung nehmen sie den Kampf gegen den anderen Schwertträger auf. Einen Kampf, der schon entschieden ist, aber manchmal gelingt es doch, dem Tod noch etwas Leben abzuringen.

Und wieder andere möchten gehen, aber ihre Zeit ist noch nicht gekommen. Manche sind lebenssatt und möchten Abschied nehmen. Andere warten auf auf Erlösung, weil sie ihr Maß an Leid nicht mehr tragen können. Ergeben, manchmal auch sehnsüchtig erwarten sie den Moment, in dem sie das Schwert von einem unerträglich gewordenen Leben erlöst.

Der Tod hat viele Gesichter. Er nimmt die einen mit und lässt die Lebenden zurück. Was einmal war – es ist vorbei. Es schmerzt uns, wenn es zu spät ist für ein liebes Wort. Wir können nichts nachholen, nichts gutmachen, nichts klarstellen. Wir merken, dass unsere Zeit begrenzt ist. Der Tod schlägt Wunden und macht hilflos. Daran erinnert das Schwert Michaels.

Daneben ist Michael hier mit einer Waage dargestellt. Auch ein Symbol, ein Bild, ein Gedanke, der in uns wach wird, wenn wir von Menschen Abschied nehmen müssen. Was zählt im Leben? Es gibt das Gute in unserem Leben, und es gibt das Böse. Und wohin neigt sich die Waagschale? Michael ist hier als Seelenwäger dargestellt. Dass am Ende des Lebens gewogen wird, ist ein uraltes Motiv, das bis zu den alten Ägyptern zurückgeht. Am Ende ziehen wir Bilanz, manch Sterbende, manch Sterbender tut dies, und wir Zurückbleibenden tun es auch, in Gedanken zieht das Leben vorbei, was bleibt, was zählt, welche Erfolge, welche Niederlagen sind zu verbuchen – und was steht unter dem Strich?

Martin Luther hat die Frage, wohin sich die Waagschale neigt, fast verrückt gemacht. Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Luther war sicher ein selbstquälerischer Mensch, er befürchtete bei konsequenter Betrachtung seines Lebens, seines Tuns und Lassens, nein, das schaffe ich einfach nicht, das Böse in hat überhand. Das kann nicht gut ausgehen, ich bin verloren. Andere Menschen sind anders gestrickt, sie denken überhaupt nicht über solche Fragen nach und dann kommt der Tod eines nahen Menschen oder eine eigene Krankheit zeigt das Ende der Tage an und dann stellt sich mit Erschrecken: Was hab ich mit meinem Leben getan? Oder auch nicht getan...

Michael, der Seelenwäger. Mit dem Schwert, das entscheidet und mit der Waage, die unser Leben beurteilt. Die Bibel erzählt, wie die Menschen ihre Unschuld verloren haben und das Paradies verlassen mussten. Ein Engel bewacht den Weg zurück, ein Engel mit dem blitzenden Flammenschwert. Der Legende nach soll Michael dieser Engel gewesen sein – deshalb wohl trägt er das Schwert.

In der Bibel wird Michael nur zweimal erwähnt. Beide Male tritt er auf, wenn die Mächte des Bösen die Menschheit bedrohen. Dann kommt er dem Leben zu Hilfe.

Die erste Bibelstelle lese ich Ihnen vor, aus dem ersten Teil der Bibel, dem Danielbuch (Dan 12,1-3):

Zu jener Zeit wird Michael, der große Engelfürst, der für dein Volk eintritt, sich aufmachen. Denn es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande. Und die da lehren, werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.

Am Ende der Bibel, in der Offenbarung des Johannes (12,1-10), kommt Michael wieder vor. Am Ende aller Zeiten ringen Gut und Böse, Gott und das Satanische miteinander. Ein Kind, Symbol des Lebens, wird geboren – und ist sofort bedroht. Auch hier springt Michael ein. Er rettet das Neugeborene und behütet es vor den dunklen Mächten. Er kämpft mit dem Drachen und bringt das Kind in Sicherheit.

Hier kommt das andere Gesicht von Michael noch deutlicher zum Vorschein. Er ist ein starker Retter. Er behütet und beschützt das Kind, Sinnbild des bedrohten Lebens. In der Tradition der Kirche ist Michael daher ein Schutzengel.

Das Schwert trifft den Teufel in dem Moment, wo er gierig die Hand nach uns ausgestreckt. Besiegt ist der Teufel und damit auch unsere Angst, am Ende nicht zu genügen. Diese Darstellung Michaels ist ein Bild der Hoffnung. Bei aller Dramatik des Geschehens, ganz entspannt, souverän steht er da. Ruhig und klar ist sein Blick. Ein Bild für die Geborgenheit im Glauben, nach der Luther sich sehnte und die Gott ihm schenkte. Luther kam zu der Erkenntnis: Gott ist nicht in erster Linie zornig, sondern ein glühender Backofen voller Liebe, und wir schwanken nicht zwischen Himmel und Hölle, zwischen ewigen Leben und ewiger Verdammnis. Wir sind schon gewogen, dafür steht alles, für das Jesus eingetreten und gestorben ist. Gottes erstes Wort zu uns ist immer ein Wort der Liebe. Mein Lehrer Wilfried Härle hat mal in einer theologischen Vorlesung in Marburg gesagt: Das Jüngste Gericht ist ein Bild dafür, dass unser Leben, unser Tun und Lassen am Ende aller Zeiten schon beurteilt werden wird. Aber es wird nicht die Scheidung in Sieger und Verlierer, Gläubige und Ungläubige, Treue und Versager geben. Sondern im Licht der Liebe Gottes wird einmal alles aufgedeckt. Zur Liebe gehört die Ehrlichkeit dazu, dass nichts unter den Teppich gekehrt wird. Offenbar wird, was wir getan und gelassen haben. Einmal muss das aufgedeckt werden – und dann wird all das Böse und Schlechte für immer zugedeckt, in die Tiefe des Meeres versenkt. Und aufbewahrt wird von Gott, was aufbewahrt werden muss in der Liebe. Unser Herz, unsre Seele, unsere Person, der Mensch, wie Gott sich uns, mich und Sie, und auch die gedacht hat, von denen wir im letzten Jahr Abschied genommen haben. Aufbewahrt: Wie auch immer und wo auch immer. Wir können jetzt nur in Bildern davon sprechen. Und so mag Michael, der Seelenwäger als Bild dafür stehen, dass wir daran erinnert werden, wir werden einst gewogen werden – aber sind doch schon längst gewogen. Und so sind wir eingeladen, aufgefordert, ermutigt weder selbstquälerisch oder leichtfertig, weder sorglos noch von Trauer zerfressen unser Leben zu leben. Im Vertrauen – trotz allem.

Amen.

 

Anmerkungen:

Die Grundidee und der Titel dieser Predigt stammen – wieder einmal – von Margot Runge aus Sangershausen. Bis auf einige wenige entlehnte Passagen ist die Predigt aber völlig neu. Die Predigt von Margot Runge finden Sie hier: http://www.kanzelgruss.de/index.php?seite=predigt&id=2164